Sozio…äh…was…?

Dabei wissen wir seit Dienstagabend: "Es gibt keine soziokulturelle Gastronomie", so formuliert jedenfalls einer, der es wissen müsste – Rainer Bode von der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur NRW. Gemeinsam mit acht (!) weiteren Diskutanten plus Moderatorin suchte er nach einer Antwort auf die Frage nach der Zukunft von Zeche Carl in Zeiten der Insolvenz: "Quo vadis?"

Eine Politformel wie die für ein Biermixgetränk

"Quot capita tot sensus" könnte man da aus "Asterix im Morgenland" zitieren: So viele Köpfe, so viele Meinungen. Oder wollen alle doch irgendwie das Gleiche?

Fest steht jedenfalls, dass in drei Stunden meist etwas zäher Debatte kein Begriff so oft fiel, wie jener der "Soziokultur", und zwar im Rahmen eines Versprechens: Was immer nun aus der Zeche an der Wilhelm-Nieswandt-Allee werden möge, ein "soziokulturelles" Zentrum werde es bleiben.

Doch die Definition blieben die meisten schuldig. Soziokultur, so hörte man heraus, ist ein bisschen wie die Formel für ein Biermix-Getränk: Konzerte plus Politdebatte plus Bierchen nach Feierabend plus Kinderbetreuung plus X.

Was dieses X ist? Es ist das solidarische Miteinander von rentierlichen und unrentierlichen Bereichen, nichts, was man auseinanderreißen sollte, sagt Johannes Brackmann vom "Grend". Es ist das Gefühl, dass da Leute "gemeinsam etwas tragen, egal ob als GmbH oder Verein", sagt Rainer Bode. Es ist was mit bezahlbaren Preisen, sagt ein Gast. Es ist, was die Leute selbst draus machen, sagt Christian Kromberg aus dem OB-Büro. Es ist 90 bis 100 Volumenprozente Selbstverwaltung, organisiert von Leuten, die miteinander können. Es ist das Zusammenwirken von Menschen mit "selbstgestrickter" und für den Arbeitsmarkt deshalb oft problematischer Biografie, wie Carl-Betriebsrat Thomas Binger sagt. Nicht alle Zechen-Kumpels von einst können eben wie Jörg Stüdemann nach dem Marsch durch die Instituionen zum OB-Kandidaten in der Nachbarstadt avancieren.

Soziokultur ist, wenn die SPD sich an diesem Abend zu nicht mehr als "kritischer Sympathie" durchringen kann, während die Linke plakativ fordert: "Keine Vorschriften beim Geldausgeben!" Die FDP würde gerne Private ans Werk lassen, das stütze ja das Soziokulturelle, und für die CDU war das, was hier auf Zeche Carl geschah, eineinhalb Jahrzehnte lang ein rotes Tuch. Heute weiß man Carl zu schätzen, es gibt eine Solidaritätsadresse von Johannes-Werner Schmidt, einst Stadtkämmerer und heute CDU-Sprecher im Bezirk Altenessen. Und man fragt sich, wer sich wohl mehr gewandelt hat: die Christdemokraten oder die Leute von der Zeche.

Neue Nischen für die Zukunft suchen

Denn manchen aus der "Szene" kommt die Zeche Carl schon seit Jahren zu kommerziell daher, ablesbar zum Beispiel an den erfolgreichen Schwulen-Parties (ausgerechnet) des (Ex-)Zechen-Geschäftsführers Helge van Dornick. Kommerz bringt Geld, ist aber irgendwie nicht Soziokultur: "Die Zeche Carl soll kein Kommerzzentrum werden", sagt SPD-Mann Hans Aring deshalb.

Aber irgendwie muss die Chose bezahlt werden, das "Geschäftsmodell", so könnte man formulieren, basiert auf Zuschüssen. Die aber werden definitiv nicht steigen (siehe Box). Christian Kromberg vom Büro des OB appelliert deshalb an alle, die Nischen zu suchen, an dem Programm zu basteln, das Zukunft auf Zeche verspricht. Die Arbeitsgruppe des OB will sich dazu für Experten der Soziokultur öffnen.

Das kommt an, der Vorwurf, "closed shop", also eine Politik des "geschlossenen Zirkels" zu betreiben, wird fallen gelassen, alle bleiben sachlich. Zumal "es keine Vorfestlegungen gibt", so Rüdiger Kersten vom Kulturbüro. Die Mitarbeiter müssen dran glauben. Ihr Bier.

Apropos: Am Zechentresen schenkt demnächst ein privater Pächter das Pils ein. Erstmal für sechs Monate.

Mal sehen, wie’s schmeckt. Die Frage, wie weit die Stadt Essen der Zeche Carl finanziell unter die Arme greifen darf, ist keineswegs nur eine Sache der hiesigen Politik, im Gegenteil: Die Bezirksregierung in Düsseldorf hat in einem Brief an den Oberbürgermeister vergangene Woche das weitere Vorgehen mit warnenden Worten kommentiert. Dass die Carl-Mitarbeiter etwa in einer Transfergesellschaft für ein halbes Jahr vor der Arbeitslosigkeit bewahrt werden, sieht Düsseldorf vor dem Hintergrund der Essener Etatlage als "kritisch" an, ist aber "bereit, Bedenken zurückzustellen".

Auch beim Zukunfts-Konzept für Zeche Carl hält die Bezirksregierung den Daumen drauf: Bis spätestens 1. April 2009 muss die Stadt das Konzept vorlegen und direkt danach umsetzen. Wörtlich heißt es: "Das finanzielle Engagement der Stadt Essen im Rahmen der Neukonzeption darf den bisherigen Zuschussbetrag keinesfalls überschreiten; eine Reduzierung ist anzustreben."

Quelle: NRZ Neue Ruhr Zeitung Essen